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Der Mann, der Bäume pflanzte

Vor etwa vierzig Jahren machte ich eine lange Fußwanderung über die jeglichem Tourismus völlig unbekannten Höhen der sehr alten Alpen, die sich in die Provence hinein erstrecken.

Die Gegend wird begrenzt im Südosten und Süden durch den Mittellauf der Durance zwischen Sisteron und Mirabeau; im Norden durch den Oberlauf der Drome von der Quelle bis Die; im Westen durch die Ebenen der Grafschaft Venaissin und das Vorgebirge des Mont-Ventoux. Sie umfaßt den ganzen nördlichen Teil des Departement Basses-Alpes, den Süden des Departement Drome und ein kleines Gebiet des Departement Vaucluse.

Zu der Zeit, da ich meine große Wanderung in diesem Ödland in 1200 bis 1300 Meter Höhe unternahm, waren da karge und eintönige Heideflächen. Es wuchs nur der wilde Lavendel.

Ich durchstreifte das Hochland, wo es am breitesten war, und nach drei Tagen befand ich mich in einer trostlosen Lage wie noch nie. Ich kampierte neben den Ruinen eines verlassenen Dorfes. Ich hatte seit dem Vorabend kein Wasser mehr und mußte welches finden. Die wie Wespennester dicht gedrängten Häuser, obzwar verfallen, brachten mich auf den Gedanken, daß es hier einstmals eine Quelle oder einen Brunnen gegeben haben müsse. Es gab auch eine Quelle, aber sie war versiegt. Die fünf, sechs Häuser ohne Dächer, von Wind und Regen zerstört, die kleine Kapelle mit eingestürztem Türmchen, das alles war angeordnet wie in den lebendigen Dörfern; aber alles Leben war daraus entwichen.

Es war ein schöner Junitag, mit viel Sonne, aber in diesen ungeschützten und gegen den Himmel offenen Gegenden blies der Wind mit unerträglicher Gewaltsamkeit. Sein Heulen in den Skeletten der Häuser war das Heulen eines Raubtiers, das bei seiner Mahlzeit gestört wird. Ich mußte aufbrechen.

Nach fünf Stunden Marsch hatte ich noch immer kein Wasser gefunden, und nichts konnte mir die Hoffnung geben, welches zu finden. Überall die gleiche Trockenheit, das gleiche dürre Gras.

Da sah ich in der Ferne eine kleine schwarze Silhouette stehen. Ich hielt sie für den Stumpf eines Baumes. Auf gut Glück ging ich darauf zu. Es war ein Hirte. Etwa fünfzig Schafe lagerten auf der heißen Erde und ruhten sich neben ihm aus.

Er gab mir zu trinken aus seiner Fellflasche, und dann führte er mich zu seiner Hütte in einer Mulde der Hochebene. Er holte ausgezeichnetes Wasser aus einem sehr tiefen natürlichen Erdloch, über dem eine primitive Winde aufgestellt war. Der Mann sprach wenig. Das ist so bei einsam lebenden Menschen; aber man spürte, daß er seiner sicher war und dieser Sicherheit vertraute. Das war ungewöhnlich in dieser Einöde. Er wohnte nicht in einer Schäferhütte, sondern in einem Steinhaus. Man sah genau, wie durch seine Arbeit die Ruine, die er bei seiner Ankunft vorgefunden hatte, ausgebessert worden war. Das Dach war solid und wasserdicht. Der Wind, der daran rüttelte, erzeugte auf den Ziegeln ein Rauschen wie am Meeresstrand.

Der Haushalt war aufgeräumt, das Geschirr gewaschen, der Boden gekehrt, das Gewehr eingefettet. Die Suppe kochte auf dem Herd. Ich bemerkte, daß er frisch rasiert war und daß alle seine Knöpfe gut angenäht waren und seine Kleider ausgebessert mit der peinlichen Sorgfalt, welche die Flicken unsichtbar macht.

Er teilte seine Suppe mit mir. Als ich ihm nachher meinen Tabaksbeutel anbot, sagte er er rauche nicht. Sein Hund, ebenso schweigsam wie er, war freundlich ohne Unterwürfigkeit.

Er hatte sogleich seine Zustimmung gegeben, daß ich die Nacht dableiben solle; das nächstgelegene Dorf war mehr als anderthalb Tagemärsche von hier. Abgesehen davon kannte ich die Beschaffenheit dieser seltenen Weiler hierzulande bereits zur Genüge. Es gibt vier oder fünf, einer weit vom anderen entfernt, an den Abhängen dieser Berge, im Buschholz der Steineichen, weltenweitab von den befahrbaren Straßen.

Sie sind bewohnt von Köhlern, die Holzkohle brennen. In solchen Ortschaften lebt es sich schlecht. Die Familien, eng zusammengedrängt in einem äußerst rauhen Klima, im Sommer wie im Winter, toben ihren Egoismus im engen Kreis aus. Der unbewußte Ehrgeiz steigert sich zum allgegenwärtigen Wunsch, nicht in diesem Ort bleiben zu müssen.

Die Männer bringen die Kohle auf Lastwagen in die Stadt und kommen dann wieder. Unter diesem ständigen Wechseldasein brechen die stärksten Charaktere zusammen. Die Frauen hegen ständigen Groll.

Man streitet sich um alles, ebensosehr um den Kohlenverkauf wie um die Bank in der Kirche, um die Tugenden, die sich gegenseitig bekämpfen, um die Laster, die einander widerstreiten, um die ständige allgemeine Vermischung von Laster und Tugend. Zu alledem greift der ebenfalls unaufhörliche Wind noch die Nerven an. Es gibt ganze Epidemien von Selbstmord und zahlreiche Fälle von Wahnsinn, die tödlich enden.

Der Hirte, der nicht rauchte, holte einen kleinen Sack und schüttete einen Haufen Eicheln auf den Tisch. Er machte sich daran, sie genau zu untersuchen, indem er die guten von den schlechten trennte. Ich rauchte meine Pfeife. Ich erbot mich, ihm zu helfen. Aber er meinte, das sei seine Sache. Das war es in der Tat. Angesichts der Sorgfalt, die er für seine Arbeit aufwandte, drängte ich mich nicht auf. Damit erschöpfte sich unsere ganze Unterhaltung.

Als er einen ziemlich großen Haufen guter Eicheln auf der Seite hatte, zählte er sie ab in Gruppen zu zehn. Dabei schied er noch die kleinen aus und die mit einem winzigen Riß; er prüfte sie sehr genau. Als er endlich hundert vollkommene Eicheln vor sich hatte, hörte er auf, und wir gingen schlafen.

Im Zusammensein mit diesem Menschen breitete sich Friede aus. Am anderen Morgen fragte ich ihn, ob ich noch den ganzen Tag bei ihm ausruhen dürfe. Er fand das ganz natürlich oder vielmehr: er erweckte den Eindruck, daß nichts ihn stören könne. Ich hatte diesen Ruhetag nicht unbedingt nötig, aber ich war neugierig und wollte noch mehr erfahren. Er trieb seine Herde aus dem Stall und führte sie auf die Weide. Vor dem Weggehen tränkte er den Sack mit den sorgfältig ausgewählten und gezählten Eicheln in einem Eimer Wasser.

Ich beobachtete, daß er anstelle eines Steckens eine Eisenstange mitnahm, so dick wie der Daumen und ungefähr anderthalb Meter lang. Ich tat so, als ob ich mich im Umherwandern ausruhte, und ging auf einem Weg, der parallel zu seinem verlief. Die Weide für seine Tiere befand sich in einer Mulde. Er überließ die kleine Herde der Obhut des Hundes und stieg den Hügel hinan, wo ich dahinging. Ich fürchtete, er käme, um mir Vorwürfe zu machen wegen meiner Neugierde, aber keine Spur davon: dies war sein Weg, und er lud mich ein, ihn zu begleiten, wenn ich nichts besseres vorhätte. Er stieg noch zweihundert Meter weiter auf die Anhöhe.

Als er an einer bestimmten Stelle war, zu der er hinwollte, begann er seinen Eisenstab in die Erde zu stoßen. Er machte Löcher und legte in jedes eine Eichel hinein und machte das Loch wieder zu. Er pflanzte Eichen.

Ich fragte ihn, ob das Land ihm gehöre. Nein, antwortete er. Ob er wisse wem es gehöre. Er wußte es nicht. Er vermute, daß es Gemeindeland sei, oder vielleicht gehöre es Leuten, die sich nicht darum kümmerten. Ihn focht es nicht an, daß er die Besitzer nicht kannte. So setzte er hundert Eicheln mit größter Sorgfalt.

Nach dem Mittagsmahl nahm er seine Sämannsarbeit wieder auf. Ich muß wohl sehr hartnäckig gewesen sein mit meinen Fragen, daß er darauf antwortete. Seit drei Jahren pflanzte er Bäume, hier in dieser Einsamkeit. Er hatte bereits hunderttausend gepflanzt. Von den hunderttausend hatten zwanzigtausend getrieben. Von diesen zwanzigtausend, damit rechne er, werde er noch die Hälfte verlieren durch die Nagetiere oder durch Umstände, die nicht vorauszusehen sind in den Plänen der Vorsehung. Es blieben also zehntausend Eichen, die wachsen würden da, wo es vorher nichts gegeben hatte.

Ich fragte mich, welches Alter dieser Mann wohl habe. Offenbar war er über fünfzig. Fünfundfünfzig, sagte er mir. Er hieß Elzeard Bouffier. Er hatte einen Bauernhof besessen, in der Ebene unten. Dort hatte er sein Auskommen gehabt. Er hatte seinen einzigen Sohn verloren, dann auch seine Frau. So hatte er sich in die Einsamkeit zurückgezogen, wo er Gefallen daran fand, beschaulich zu leben mit seinen Schafen und seinem Hund. Er hatte sich überlegt, daß diese Gegend absterben werde aus Mangel an Bäumen. Er setzte hinzu: Da er doch nichts Wichtiges zu tun habe, sei es sein Plan, hier Abhilfe zu schaffen.

Ich selber führte damals, ungeachtet meiner Jugend, ein einsames Leben, darum verstand ich es, behutsam mit einsamen Menschen umzugehen. Trotzdem beging ich einen Fehler. Eben wegen meiner Jugend mußte ich an die Zukunft denken und an das Erhaschen des Glücks.

Ich sagte, daß in dreißig Jahren diese zehntausend Eichen großartig stehen würden. Er entgegnete sehr schlicht: Wenn Gott ihm das Leben erhalte, werde er in dreißig Jahren so viele gepflanzt haben, daß diese zehntausend wie ein Tropfen im Meer seien.

Er studierte übrigens bereits die Aufzucht der Buchen und hatte neben seinem Haus mit Bucheckern eine Pflanzschule angelegt. Die Setzlinge, die er mit einem Gitter vor den Schafen geschützt hatte, standen prächtig. Er denke ebenfalls daran, so sagte er mir, etwas weiter unten Birken zu pflanzen, da es dort ein paar Meter unter der Oberfläche Feuchtigkeit gebe.

Am folgenden Tag trennten wir uns.

Im Jahr darauf begann der Krieg von 1914, in den ich fünf Jahre lang einbezogen war. Ein Infanteriesoldat konnte nicht an Bäume denken! Um die Wahrheit zu sagen: Die Sache hatte keinen Eindruck hinterlassen, ich hatte sie nur als einen Zeitvertreib betrachtet, etwa wie eine Briefmarkensammlung, und vergessen.

Aus dem Krieg entlassen, befand ich mich im Besitz einer winzigen Demobilmachungsprämie und hatte zugleich ein großes Bedürfnis nach frischer Luft. Deswegen und aus keinem anderen Grund machte ich mich in jene Einöden auf.

Das Land hatte sich nicht verändert. Immerhin, oberhalb des verfallenen Dorfes entdeckte ich in der Ferne so etwas wie einen grauen Nebel, der die Höhen wie ein Teppich bedeckte. Seit dem Vorabend dachte ich wieder an den Hirten, der Bäume pflanzte. “Zehntausend Eichen”, sagte ich mir “nehmen wirklich eine große Fläche ein.”

Ich hatte während dieser fünf Jahre zu viele Menschen sterben sehen, als daß ich mir nicht Elzeard Bouffiers Tod hätte vorstellen können — um so mehr, als man mit zwanzig Jahren fünfzigjährige Männer als Greise betrachtet, denen nichts mehr übrigbleibt als zu sterben. Er war nicht gestorben. Er war sogar gut im Saft.

Er hatte seinen Beruf gewechselt. Er hatte nur noch vier Schafe, aber dafür etwa hundert Bienenstöcke. Die Schafe hatte er abgegeben, weil sie die Baumpflanzungen gefährdeten. Um den Krieg, sagte er mir, habe er sich ganz und gar nicht gekümmert. Er habe — und das konnte ich selber feststellen — unbeirrbar weiter gepflanzt.

Die Eichen von 1910 waren also zehn Jahre alt und höher als ich und als er. Der Anblick war beeindruckend. Ich war buchstäblich sprachlos, und weil er auch nicht redete, verbrachten wir den ganzen Tag damit, daß wir schweigend im Wald herumgingen. Der Wald erstreckte sich, in drei Abteilungen, in seiner größten Ausdehnung elf Kilometer weit. Wenn man sich vergegenwärtigte, daß dies alles von den Händen und dem Herzen dieses Mannes herrührte, dann ging einem auf, daß die Menschen auch in anderer Hinsicht herrscherliche Macht haben könnten wie Gott, nicht nur im Zerstören.

Elzeard Bouffier hatte seinen Plan weiterverfolgt. Buchen, die mir bis zu den Schultern reichten, bewiesen es; sie hatten sich ausgebreitet, so weit man schauen konnte. Die Eichen standen dicht und waren über das Alter hinaus, wo der Wildverbiß ihnen etwas anhaben konnte. Wenn die Vorsehung dieses Werk zerstören wollte, wäre sie fortan auf Zyklone angewiesen.

Elzeard Bouffier zeigte mir wunderbare Birkenhaine, die fünf Jahre alt waren; sie stammten also von 1915, als ich in Verdun kämpfte. Überall, wo er zu Recht Feuchtigkeit unter der Oberfläche vermutete, hatte er Birken gepflanzt; sie standen zart und fest wie junge Mädchen.

Dieses schöpferische Werk schien übrigens weiterzuwirken. Er kümmerte sich nicht darum. Er verfolgte hartnäckig seine schlichte Aufgabe. Aber als ich in die Dörfer hinunter kam, sah ich Wasser fließen in Bachbetten, die seit Menschengedenken völlig trocken gewesen waren. Es war die großartigste Kettenreaktion, die ich je zu sehen bekommen habe.

(In weit zurückliegender Zeit hatten diese trocken gewesenen Bäche schon einmal Wasser gehabt. Einige der traurigen Dörfer, von denen ich zu Beginn meines Berichtes gesprochen habe, hatten an Plätzen gestanden, wo früher gallo-römische Siedlungen gewesen waren. Bei den vorhandenen Spuren hatten Archäologen den Boden durchforscht und Angelhaken gefunden an Orten, wo man sich im 20. Jahrhundert mit Zisternen behelfen mußte, wenn man ein wenig Wasser haben wollte.)

Auch der Wind verstreute manche Samen. Gleichzeitig mit dem Wasser gab es auch wieder Kopf- und Trauerweiden, Wiesen, Gärten, Blumen und eine gewisse Lebensgrundlage.

Die Veränderung ging so langsam vor sich, daß man sich an sie gewöhnte, ohne erstaunt zu sein. Die Jäger, die in diesen einsamen Gegenden nach Hasen oder Wildschweinen jagten, hatten wohl das Sprießen junger Bäume beobachtet, aber sie hatten es irgendeiner Laune der Natur zugeschrieben. So ist es zu erklären, daß niemand das Werk dieses Mannes störte.

Wenn jemand eine Ahnung davon gehabt hätte, wäre es vielleicht verhindert worden. Aber niemand hatte eine Ahnung. Welcher Mensch in den Dörfern unten und in den Verwaltungen hätte sich eine solche Ausdauer in schönster Selbstlosigkeit vorstellen können?

Von 1920 an habe ich mindestens einmal jedes Jahr Elzeard Bouffier besucht. Ich habe ihn nie wanken oder zweifeln sehen. Freilich wer weiß: Vielleicht stand Gott dahinter! Ich habe Elzeard Bouffiers Verdruß nicht nachgerechnet. Man kann sich vorstellen, daß es bis zu einem solchen Gelingen viel Widrigkeit zu überwinden galt. Um eine solche Leidenschaft zum Erfolg zu bringen, mußte er verzweifelt kämpfen. Er hatte ein Jahr lang mehr als zehntausend Ahorne gepflanzt. Sie gingen alle ein. Im nächsten Jahr gab er die Ahorne auf, um auf die Buchen zurückzukommen, die noch besser gediehen als die Eichen.

Um den außergewöhnlichen Charakter dieses Mannes einigermaßen zu erfassen, darf man nicht vergessen, daß sich alles in vollkommener Einsamkeit abspielte. So vollkommen, daß Elzeard Bouffier gegen Ende seines Lebens die Gewohnheit zu sprechen verloren hat. Oder sah er keine Notwendigkeit dafür?

Im Jahre 1933 bekam er den Besuch eines staunenden Forstaufsehers. Dieser Beamte gab ihm die Weisung, doch ja draußen kein Feuer zu machen, um das Gedeihen dieses natürlichen Waldes nicht zu gefährden. Es sei nämlich das erste Mal — so sagte ihm der ahnungslose Mensch , daß man einen Wald ganz von selber hervorsprießen sehe.

Zu dieser Zeit pflanzte Elzeard Bouffier Buchen, und zwar zwölf Kilometer von seinem Haus entfernt. Um sich das Hin und Hergehen zu ersparen — denn er war jetzt fünfundsiebzig Jahre alt —, faßte er den Plan, eine Steinhütte am Ort seiner Pflanzungen zu bauen, was er im folgenden Jahr auch ausführte.

Im Jahre 1935 kam eine ganze Delegation, um den “natürlichen Wald” zu besichtigen. Ein hoher Beamter des Wasser- und Forstwesens war dabei, ein Abgeordneter, etliche Techniker. Man redete viele unnütze Worte. Man beschloß, etwas zu unternehmen. Glücklicherweise wurde nichts unternommen außer dem einzig Vernünftigen: Man stellte den Wald unter Staatsschutz und verbot, hier Kohle zu brennen. Denn es war unmöglich, nicht überwältigt zu sein von der Schönheit dieser jungen Bäume in voller Kraft. Sogar gegenüber dem Abgeordneten erwies sich die mächtig bezaubernde Wirkung!

Ich hatte einen Freund unter den Forstmeistern der Delegation. Ich eröffnete ihm das Geheimnis. An einem Tag der nächsten Woche machten wir uns zusammen auf die Suche nach Elzeard Bouffier. Wir trafen ihn mitten in seiner Arbeit, zwanzig Kilometer vom Ort der Inspektion entfernt.

Dieser Forstmeister war nicht umsonst mein Freund. Er hatte einen Blick für den Wert der Dinge. Er war auch verschwiegen. Ich bot die paar Eier an, die ich als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Wir teilten den Imbiß unter uns dreien, und einige Stunden vergingen in stummer Betrachtung der Landschaft.

Die Seite, von der wir kamen, war bestanden mit Bäumen von sechs bis sieben Meter Höhe. Ich dachte zurück an den Anblick dieser Gegend im Jahr 1913: nur Wüste...

Die friedliche und regelmäßige Arbeit, die frische Höhenluft, die Genügsamkeit und vor allem die Heiterkeit des Herzens hatten diesem Greis eine schier feierliche Gesundheit verliehen. Er war ein Streiter Gottes. Ich fragte mich, wie viele Hektar Land er wohl noch mit Bäumen bepflanzen werde.

Vor dem Aufbruch machte mein Freund nur einen kleinen Vorschlag zu bestimmten Arten, denen der Boden hier eigentlich zusagen müßte. Er versteifte sich nicht darauf. “Aus dem einfachen Grund”, sagte er mir gleich nachher, “daß der gute Mann von der Sache mehr versteht als ich.” Nach einer Stunde Fußmarsch — der Gedanke hatte sich in ihm weiterentwickelt — fügte er hinzu: “Er weiß viel mehr als wir alle. Er hat den Großen Weg zum Glück gefunden.”

Es ist diesem Forstmeister zu verdanken, daß nicht nur der Wald, sondern auch das Wohlergehen dieses Mannes unter Obhut gestellt wurde. Er ernannte drei Forstaufseher zum Schutz und versetzte sie derart in Furcht und Zittern, daß sie gegenüber möglichen Bestechungsversuchen der Köhler fest blieben.

Eine ernste Gefahr drohte dem Werk einzig im Krieg von 1939. Die Automobile wurden mit Holzgas betrieben; es gab nie genug Holz. Man fing schon damit an, Eichen von 1910 zu fällen. Aber die Bestände befanden sich so weit weg vom Straßennetz, daß dieses Unternehmen sich als finanziell völlig unrentabel herausstellte. Man gab es wieder auf. Der Hirte hatte nichts bemerkt; er lebte dreißig Kilometer davon entfernt und führte friedlich seine Aufgabe weiter, ohne vom 39er Krieg etwas zu wissen so wenig wie von dem anno 14.

Ich habe Elzeard Bouffier zum letzten Mal im Juni 1945 gesehen. Er war damals siebenundachtzig Jahre alt. Ich hatte wieder den Weg durch die “Wüste” gewählt, aber jetzt gab es, trotz der Zerrüttung, in die der Krieg das Land gestürzt hatte, eine Autobusverbindung vom Tal der Durance ins Gebirge.

Dieser schnellen Beförderung schrieb ich es zu, daß ich die Gegend meiner früheren Wanderungen nicht nicht wiedererkannte. Es schien mir auch, als ginge die Fahrstraße durch neue Ortschaften. Ich mußte den Namen eines Dorfes erfragen, um sicher zu sein, daß ich mich wirklich in der ehemals so verlassenen Gegend befand. Ich stieg in Vergons aus dem Bus.

Im Jahre 1913 hatte dieser Weiler von zehn bis zwölf Häusern nur noch drei Einwohner gehabt. Die waren Halbwilde gewesen, die sich haßten, von der Jagd mit Fallen lebten, in ihrer physischen und moralischen Verfassung fast den Menschen der Vorgeschichte vergleichbar. Brennesseln hatten die verlassenen Häuser umwuchert. Die Lebensbedingungen waren hoffnungslos gewesen. Für diese Menschen war es nur noch darum gegangen, auf den Tod zu warten — ein Zustand, der keineswegs die Tugenden begünstigt!

Das alles hatte sich verändert. Sogar die Luft. Statt der trockenen und heftigen Winde, die mich früher empfingen, wehte ein leichtes Lüftchen voller Wohlgerüche. Ein Murmeln, ähnlich dem des Wassers, kam von den Höhen: es war der Wind in den Wäldern. Und das Erstaunlichste: Ich hörte, wie Wasser in ein Becken plätscherte. Ich sah, man hatte einen Brunnen gebaut, der reichlich floß. Und, was mich am meisten rührte: Man hatte vor etwa vier Jahren daneben eine Linde gepflanzt; sie war schon recht stattlich. Das war ein untrügliches Symbol neuen Lebens.

Übrigens gab es im Dorf Vergons Anzeichen eines Wirkens, das nur mit Hoffnung unternommen werden kann. Die Hoffnung war zurückgekehrt! Man hatte die Ruinen weggeräumt, verfallene Mauerreste abgebrochen, fünf Häuser aufgebaut. Der Weiler zählte nun achtundzwanzig Bewohner, darunter vier junge Familien.

Die neuen Häuser, frisch verputzt, waren von Gemüsegärten umgeben, in denen abwechselnd, aber schön gereiht, Gemüse und Blumen wuchsen: Kohl und Rosen, Lauch und Löwenmäulchen, Sellerie und Anemonen. Vergons war ein Ort geworden, an dem man gern wohnte.

Ich verließ Vergons und wanderte zu Fuß weiter. Der Krieg war eben erst zu Ende gegangen und hatte noch nicht wieder das volle Aufblühen des Landes erlaubt. Aber Lazarus war dem Grab entstiegen. In den unteren Bereichen der Bergabhänge sah ich kleine Felder mit auflaufender Gersten- und Roggensaat und am Grunde der engen Täler grünende Wiesen.

Es bedurfte nur der acht Jahre, die uns von jener Zeit trennen, damit das ganze Gebiet von Gesundheit und Wohlergehen strahlte. Wo ich 1913 Ruinen gesehen hatte, stehen jetzt saubere Bauernhäuser, die von einem glücklichen und angenehmen Leben zeugen. Die alten Quellen, gespeist von den Regen und Schneefällen, die von den Wäldern festgehalten werden, sprudeln wieder. Man hat Wasserkanäle angelegt. In Ahornwäldchen gibt es neben jedem Haus einen Brunnen, der in einen Teppich von frischer Minze überfließt. Die Dörfer sind nach und nach wieder aufgebaut worden. Eine Bevölkerung ist aus der Ebene, wo das Land teuer geworden ist, heraufgekommen und hat sich hier niedergelassen und Jugend, Aufbruchstimmung und Unternehmungsgeist mitgebracht.

Man begegnet in den Gassen wohlgenährten Männern und Frauen, Jungen und Mädchen, die gern lachen und wieder Spaß haben an ländlichen Festen. Wenn man zu den Neusiedlern die alte Bevölkerung hinzu zählt die ist, seit sie so gesund lebt, kaum wiederzuerkennen , so verdanken mehr als zehntausend Menschen ihr Glück Elzeard Bouffier.

Wenn ich bedenke, daß ein einziger Mann, allein auf seine physischen und moralischen Kräfte gestellt, genügte, um aus der Wüste dieses Gelobte Land erstehen zu lassen, dann finde ich, trotz allem, das menschliche Dasein etwas Wunderbares.

Und wenn ich ausrechne, wieviel Beständigkeit, Seelengröße, Eifer und Selbstlosigkeit nötig war, um bis ans Ziel zu kommen, dann erfüllt mich eine unendliche Hochachtung vor dem alten Bauern ohne Bildung, der ein Werk zu schaffen wußte, das Gottes würdig ist.

Elzeard Bouffier ist im Jahre 1947 friedlich gestorben im Altenheim von Banon

übersetzt von Walter Tappolet

mit freundlicher Genehmigung von Alexandre Bouffier,
aus: Der Mann, der Bäume pflanzte, von Jean Giono

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